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Migrationsmedizin und die Wiederkehr von Polioviren in Europa

Stockholm/Berlin, 4. Juli 2025 – Die Entdeckung von Polioviren in Abwasserproben in fünf europäischen Ländern – Deutschland, Spanien, Polen, Großbritannien und Finnland – hat eine breite Debatte über die Herausforderungen der Migrationsmedizin und die Bedeutung globaler Impfkampagnen ausgelöst. Die Funde, die zwischen September und Dezember 2024 von der EU-Gesundheitsbehörde ECDC dokumentiert wurden, werfen ein Schlaglicht auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Migration, Gesundheitspolitik und der Prävention vermeidbarer Krankheiten wie Poliomyelitis. Die Deutsche Ärztezeitung sprach von einem „Weckruf“ für Europa, während das Robert Koch-Institut (RKI) die Notwendigkeit betont, Impflücken zu schließen und die Überwachung zu intensivieren.

Polioviren in Europa: Ein unerwarteter Fund

Die Nachweise von Polioviren, insbesondere des Typs 2 (cVDPV2), in Abwasserproben europäischer Städte haben Experten alarmiert. In Deutschland wurden die Viren in allen sieben regelmäßig untersuchten Städten – München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz – sowie kürzlich auch in Stuttgart und Berlin gefunden. In anderen Ländern variierte die Verbreitung: In Finnland und Spanien war jeweils nur eine Probe positiv, in Polen zwei von acht und in Großbritannien vier von zwölf. „Die genetische Übereinstimmung der Stämme deutet auf eine breitere geografische Verbreitung hin“, schrieben Forscher in der Fachzeitschrift Eurosurveillance. Die Viren stammen nicht vom Wildtyp, sondern sind sogenannte impfstoffabgeleitete Polioviren (cVDPV2), die auf Schluckimpfungen mit abgeschwächten, lebenden Viren zurückgehen, wie sie in Afrika und Asien noch verwendet werden.

Das RKI hält es inzwischen für „zunehmend wahrscheinlicher“, dass das Virus in Deutschland zwischen Menschen übertragen wird, obwohl konkrete Erkrankungen oder bestätigte Übertragungsketten bisher nicht gemeldet wurden. „Die Funde sind ein Alarmsignal“, betonte RKI-Präsident Prof. Dr. Lars Schaade. „Jeder in Deutschland sollte eine Polio-Impfung haben.“ Besorgniserregend ist die niedrige Impfquote: Nur 21 Prozent der Einjährigen und 77 Prozent der Zweijährigen in Deutschland sind vollständig gegen Polio geimpft, obwohl die Grundimmunisierung bis zum ersten Lebensjahr abgeschlossen sein sollte.

Migrationsmedizin: Gesundheit im globalen Kontext

Die Wiederkehr von Polioviren in Europa wird von Experten eng mit Migration und globalen Gesundheitsunterschieden verknüpft. Die nachgewiesenen cVDPV2-Stämme zeigen eine hohe genetische Übereinstimmung mit Viren, die in Ländern wie Algerien, Guinea und Mali zirkulieren. „Die Daten sprechen für multiple Importe“, erklärt Sindy Böttcher vom RKI. „Menschen, die in Regionen mit Schluckimpfungen reisen oder von dort migrieren, können die Viren unbemerkt einschleppen.“ In Deutschland wird seit 1998 nur der inaktivierte Polioimpfstoff (IPV) verwendet, der Erkrankungen verhindert, aber nicht die Übertragung des Virus. Dies erhöht das Risiko einer stillen Verbreitung, insbesondere in Gemeinschaften mit niedrigen Impfraten.

Die Migrationsmedizin steht vor der Herausforderung, Gesundheitsrisiken in einem global vernetzten Kontext zu managen. „Migration ist kein isoliertes Phänomen, sondern ein Spiegel globaler Ungleichheiten“, sagt Dr. Kayvan Bozorgmehr, Experte für Migrationsmedizin an der Universität Bielefeld. „Niedrige Impfraten, mangelnder Zugang zu Gesundheitsversorgung und Hygieneprobleme in Herkunftsländern können Krankheiten wie Polio nach Europa bringen.“ Besonders vulnerable Gruppen wie Geflüchtete, die oft aus Regionen mit schwachen Gesundheitssystemen kommen, stehen im Fokus. Im Gazastreifen etwa wurden 2024 ebenfalls cVDPV2 in Abwasserproben gefunden, was die WHO zu einer großangelegten Impfkampagne veranlasste.

Einige Stimmen, wie die des AfD-Politikers Anderson (@AndersonAfDMdEP), sehen in der Migration die Hauptursache für die Rückkehr von Polio und sprechen von einer „Beförderung ausgerotteter Krankheiten durch illegale Migration“. Experten widersprechen dieser Vereinfachung. „Die Funde sind kein Beweis für Migration als alleinige Ursache“, betont Bozorgmehr. „Reisen, internationale Impfkampagnen und mangelnde Impfbereitschaft in Europa selbst spielen ebenso eine Rolle.“ Dennoch unterstreicht der Vorfall die Notwendigkeit, Gesundheitschecks und Impfangebote für Neuankömmlinge systematisch auszubauen.

Gesundheitspolitische Maßnahmen: Impfen und überwachen

Die Funde haben eine Debatte über präventive Maßnahmen entfacht. Das RKI und die Ständige Impfkommission (Stiko) fordern dringend, Impflücken zu schließen. „Ärzte sollten bei unklaren Lähmungen oder Meningitis-Symptomen an Polio denken“, rät das RKI. Zudem wird die Abwasserüberwachung ausgeweitet, da nur 23 von 53 Ländern der WHO-Region Europa regelmäßig testen. „Die Nachweise zeigen, wie effektiv unsere Kontrollen sind“, sagt Prof. Gottfried Roller vom Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg. „Aber wir brauchen mehr Ressourcen für flächendeckendes Monitoring.“

Die WHO betont die Bedeutung globaler Impfprogramme. Während Wild-Polio nur noch in Afghanistan und Pakistan vorkommt, stellen cVDPV2 eine wachsende Bedrohung dar, insbesondere in Regionen mit niedrigen Impfraten. „Die Schluckimpfung ist in Afrika effektiv, aber sie birgt Risiken“, erklärt WHO-Experte Shahin Huseynov. „Langfristig muss der Übergang zu IPV global vorangetrieben werden.“ In Europa wird zudem die Einrichtung sicherer Lagerstätten für Polioviren vorangetrieben, um ein versehentliches Freisetzen zu verhindern.

Gesellschaftliche und ethische Dimensionen

Die Debatte um Polioviren und Migration berührt auch gesellschaftliche Spannungen. Während einige die Funde nutzen, um gegen Migration zu argumentieren, warnen Gesundheitsexperten vor Stigmatisierung. „Wir müssen Migration als Chance sehen, globale Gesundheit zu stärken“, sagt Bozorgmehr. „Das bedeutet, Impfprogramme für alle zugänglich zu machen und Vorurteile abzubauen.“ Gleichzeitig steht die Impfbereitschaft in Europa selbst im Fokus. Sinkende Impfraten, auch durch Skepsis gegenüber Impfungen, erhöhen das Risiko für Ausbrüche.

Ausblick: Ein globaler Weckruf

Die Entdeckung von Polioviren in Europa ist ein Mahnmal für die Verletzlichkeit globaler Gesundheitssysteme. „Die Funde sind kein Grund zur Panik, aber ein klarer Aufruf zum Handeln“, fasst RKI-Präsident Schaade zusammen. Neben verstärkter Überwachung und Impfkampagnen wird die Migrationsmedizin eine Schlüsselrolle spielen, um Gesundheitsrisiken frühzeitig zu erkennen und zu minimieren. Die WHO hält an ihrem Ziel fest, Polio weltweit auszurotten, doch dies erfordert eine beispiellose internationale Zusammenarbeit.

„Polio ist eine Krankheit, die wir besiegen können“, sagt Huseynov. „Aber nur, wenn wir global und lokal handeln – mit Impfungen, Bildung und Solidarität.“ Für Europa bedeutet dies, die Lehren aus den aktuellen Funden zu ziehen und Gesundheit als globale Verantwortung zu begreifen.

Quellen:

  • Eurosurveillance, EU-Gesundheitsbehörde ECDC, 2025
  • Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, 2024/2025
  • Deutsche Ärztezeitung, 3. Juli 2025
  • WHO Europa, Berichte zur Polio-Überwachung
  • Interviews und Stellungnahmen von Experten (Bozorgmehr, Huseynov)

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