Die Erwartungen der Pharmaindustrie an die neue Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz sind hoch und vielschichtig. Nach Jahren politischer Unsicherheit, stockender Reformen und wachsender Herausforderungen im Gesundheitswesen steht die Branche vor einem potenziellen Wendepunkt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, vorgestellt im April 2025, sowie erste Äußerungen und Personalentscheidungen der Regierung Merz geben einen klaren Rahmen vor, was die Pharmaindustrie in den kommenden Jahren erwarten kann – und wo weiterhin Unsicherheiten bestehen.
Standortförderung und Innovationspolitik
Die neue Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, Deutschland zum weltweit innovativsten Standort für Pharma, Chemie und Biotechnologie zu machen. Dies soll durch eine „Chemieagenda 2045“ erreicht werden, die gemeinsam mit Ländern, Unternehmen und Gewerkschaften entwickelt wird. Zentrale Elemente sind die Weiterentwicklung der Nationalen Pharmastrategie, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Arzneimittelentwicklung, Wirkstoffproduktion und die Herstellung von Medizinprodukten[1].
Die Innovationsförderung steht dabei im Vordergrund. Die Regierung plant, Zulassungsverfahren für Produktionsanlagen zu beschleunigen und Investitionshemmnisse abzubauen. Ein Investitions-Booster in Form einer degressiven Abschreibung auf Ausrüstungsinvestitionen von 30 Prozent in den Jahren 2025 bis 2027 soll die Modernisierung der Produktionslandschaft anregen[1].
Die Biotechnologie wird als Schlüsseltechnologie eingestuft. Regulatorische Erleichterungen für neue genomische Techniken (NGT) und ein verbesserter Zugang zu Wagniskapital für Start-ups in der Life-Science-Branche sind vorgesehen. Damit will die Regierung die Innovationskraft der Branche stärken und den Technologietransfer beschleunigen[1][5].
Bürokratieabbau und Standortattraktivität
Die Pharmaindustrie leidet seit Jahren unter hohen bürokratischen Hürden und langwierigen Genehmigungsverfahren. Die Regierung Merz setzt hier an: Immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren sollen vereinfacht werden, um die Zulassung von Produktionsanlagen zu beschleunigen. Ziel ist es, Deutschland auch im internationalen Vergleich als attraktiven Investitionsstandort zu positionieren[1][5].
Zudem ist eine Senkung der Körperschaftssteuer in fünf Schritten ab 2028 geplant. Die Bürokratiekosten für die Wirtschaft sollen um 25 Prozent gesenkt werden, was einer Entlastung von rund 16 Milliarden Euro entspricht. Auch die Abschaffung des Lieferkettengesetzes (LkSG) ist Teil der Entlastungsstrategie, um Unternehmen mehr Flexibilität und weniger Regulierungsdruck zu verschaffen[5].
Energiepolitik und Industriestrompreis
Ein zentrales Anliegen der Industrie ist die Senkung der Energiekosten. Die Regierung plant eine Reduktion der Strompreise um mindestens 5 Cent pro Kilowattstunde durch die Senkung der Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß sowie die Reduktion von Umlagen und Netzentgelten. Ein spezieller Industriestrompreis soll energieintensive Unternehmen wie die Pharmaindustrie zusätzlich entlasten[1][5].
Diese Maßnahmen sind für die Branche von großer Bedeutung, da hohe Energiepreise in den letzten Jahren die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Standorte massiv beeinträchtigt haben. Die Industrie erhofft sich dadurch einen Schub für Investitionen und die Sicherung von Arbeitsplätzen.
Lieferketten, Versorgungssicherheit und Rohstoffstrategie
Die geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere die Pandemie und internationale Konflikte, haben die Verwundbarkeit globaler Lieferketten offengelegt. Die Regierung Merz setzt daher auf eine Diversifizierung pharmazeutischer Lieferketten und die Stärkung der Produktion kritischer Arzneimittel und Wirkstoffe in Europa. Projekte zur Weiterverarbeitung strategischer Rohstoffe sollen gezielt gefördert werden[1][6].
Friedrich Merz hat mehrfach betont, dass die Arzneimittelproduktion in Europa gestärkt und die Abhängigkeit von außereuropäischen Lieferanten reduziert werden muss. Dies ist auch eine Reaktion auf wiederholte Lieferengpässe bei wichtigen Medikamenten, die die Versorgungssicherheit in Deutschland gefährdeten[6].
Risikobasierte Regulierung und Chemikalienrecht
Die Koalition lehnt pauschale Verbote ganzer Stoffgruppen, wie etwa PFAS, ab und setzt stattdessen auf einen risikobasierten Ansatz im Chemikalienrecht (z.B. REACH). Dies betrifft auch pharmazeutische Hilfsstoffe und soll Innovationen ermöglichen, ohne die Patientensicherheit zu gefährden[1][5].
Dieser Ansatz wird von der Industrie begrüßt, da er Planungssicherheit schafft und die Entwicklung neuer Produkte nicht durch übermäßige Regulierung behindert.
Digitalisierung und Datennutzung
Ein weiteres zentrales Thema ist die Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung und Entwicklung. Deutschland hat hier im internationalen Vergleich Nachholbedarf. Die Regierung Merz will die gesetzlichen Rahmenbedingungen so anpassen, dass der Datenschutz die Forschung nicht mehr behindert, sondern ermöglicht. Dies soll den Forschungsstandort stärken und die Abwanderung von Unternehmen ins Ausland verhindern[6][4].
Die Verbesserung der Datennutzung gilt als Voraussetzung dafür, dass Deutschland bei der Entwicklung neuer Therapien und Arzneimittel wettbewerbsfähig bleibt.
Gesundheitspolitik, Selbstverwaltung und Finanzierung
Die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre wurde von vielen Akteuren als zu einseitig auf Kostendämpfung und Bürokratie ausgerichtet kritisiert. Die Verbände der Leistungserbringer fordern einen Politikwechsel, der die Selbstverwaltung stärkt, Bürokratie abbaut und die Finanzierung des Gesundheitssystems auf stabile, planbare Füße stellt[2].
Die neue Bundesregierung steht vor der Herausforderung, die Finanzierungslücke in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu schließen, ohne die Beitragszahler weiter zu belasten oder die Versorgungsqualität zu gefährden. Friedrich Merz hat bereits eingeräumt, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen nicht ausreichen werden. Weitere Reformen, die über das bisher Beschlossene hinausgehen, werden notwendig sein. Merz fordert mehr Eigenverantwortung im System und höhere Effizienzen, um die Spirale immer höherer Sozialversicherungsbeiträge zu durchbrechen[8].
Die Branche erwartet, dass die Politik künftig stärker auf Kooperation und Eigenverantwortung der Akteure setzt und die Selbstverwaltung frühzeitig in gesundheitspolitische Entscheidungen einbindet[2].
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) und Preisbildung
Ein zentrales Anliegen der Pharmaindustrie ist die Modernisierung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG). Die Branche fordert, dass Arzneimittelinnovationen angemessen honoriert werden und die Preisbildung für hochinnovative Produkte kalkulierbarer wird. Die Regierung Merz hat angekündigt, das AMNOG weiterzuentwickeln, um die Rahmenbedingungen für Innovationen zu verbessern und die Attraktivität des Standorts zu erhöhen[1][4].
Auch die Preisbildung für neue Therapien, insbesondere im Bereich der personalisierten Medizin und Biotechnologie, soll transparenter und innovationsfreundlicher gestaltet werden.
Fachkräftemangel und Arbeitsmarkt
Die Sicherung von Fachkräften bleibt eine zentrale Herausforderung. Die Regierung plant, die Arbeitszeitregelungen zu flexibilisieren und die Attraktivität des Standortes durch gezielte Maßnahmen zu erhöhen. Die Reduzierung der Bürokratie soll auch dazu beitragen, qualifiziertes Personal für die Patientenversorgung und Forschung zu gewinnen und zu halten[5][2].
Branchenstimmen und Ausblick
Die Industrieverbände bewerten den Koalitionsvertrag und die ersten Ankündigungen der Regierung Merz überwiegend positiv. Sie sehen gute Impulse für Innovation, Investitionen und die Modernisierung des Landes. Die schnelle Einigung der Parteien der Mitte wird als Zeichen der Handlungsfähigkeit gewertet[1][7].
Gleichzeitig bleibt Skepsis, ob die ambitionierten Ziele angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen tatsächlich erreicht werden können. Mittelständische Unternehmen äußern Zweifel, ob die Regierung Merz die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland in den Griff bekommen wird[3].
Die Pharmaindustrie bietet der neuen Regierung ihre Unterstützung an, um die aktuellen wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Herausforderungen zu bewältigen. Sie sieht sich als Schlüsselindustrie und Innovationstreiber, der nicht nur für medizinischen Fortschritt, sondern auch für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung steht[7].
Fazit
Die Regierung Merz setzt klare Schwerpunkte: Standortförderung, Innovationspolitik, Entbürokratisierung, Stärkung der Versorgungssicherheit und Modernisierung des Gesundheitssystems. Die Pharmaindustrie kann von regulatorischen Erleichterungen, steuerlichen Entlastungen, einer verbesserten Energiepolitik und einer stärkeren Förderung von Forschung und Entwicklung profitieren.
Gleichzeitig bleibt die Branche gefordert, sich auf einen tiefgreifenden Wandel im Gesundheitssystem einzustellen. Die Finanzierung der GKV, die Modernisierung der Preisbildung und die Sicherung von Fachkräften werden zentrale Themen bleiben. Entscheidend wird sein, ob die angekündigten Maßnahmen konsequent umgesetzt werden und ob die Regierung Merz den Dialog mit allen Akteuren sucht, um nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen der kommenden Jahre zu finden. Die Erwartungen sind hoch – und der Handlungsdruck ist es ebenso.
Quellen:
[1] Koalitionsvertrag: Was plant die Merz-Regierung für … – Pharma+Food https://www.pharma-food.de/markt/koalitionsvertrag-was-plant-die-merz-regierung-fuer-die-pharmaindustrie-614.html
[2] Politikwechsel: Sieben Forderungen an neue Regierung https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/politikwechsel-sieben-forderungen-an-neue-regierung/
[3] Was Börse und Unternehmen von der neuen Bundesregierung … https://www.tagesschau.de/wirtschaft/neue-bundesregierung-erwartungen-wirtschaft-boerse-100.html
[4] Stärkung der Pharmaindustrie: Politik und Wirtschaft fordern neue … https://www.vfa.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-004-2025-staerkung-der-pharmaindustrie-politik-und-wirtschaft-fordern-neue-impulse.html
[5] Koalitionsvertrag: Die wichtigsten Ergebnisse für die Chemieindustrie https://www.chemietechnik.de/markt/koalitionsvertrag-die-wichtigsten-ergebnisse-fuer-die-chemieindustrie-134.html
[6] Merz: Apotheken brauchen genug Arzneimittel https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/merz-apotheken-brauchen-genug-arzneimittel/
[7] Mit Pharma geht mehr! Zeit für neue Impulse in der … – Presseportal https://www.presseportal.de/pm/54882/6027457
[8] Merz hält Koalitionsvertrag für unzureichend https://www.pharmazeutische-zeitung.de/merz-haelt-koalitionsvertrag-fuer-unzureichend-155675/
[9] Merz soll Lauterbach verhindern | PZ – Pharmazeutische Zeitung https://www.pharmazeutische-zeitung.de/merz-soll-lauterbach-verhindern-153613/
[10] Der Mann der Großkonzerne: Das Lobby-Netzwerk von Friedrich Merz https://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2025/01/28/bester-mann-der-grosskonzerne-das-lobby-netzwerk-von-friedrich-merz/
[11] Stillstand in Deutschland: Wirtschaft schwächelt, Politik taumelt https://e-fundresearch.com/markets/artikel/54986-stillstand-in-deutschland-wirtschaft-schwaechelt-politik-taumelt
[12] Das neue Kabinett unter Friedrich Merz | APOTHEKE ADHOC https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/das-neue-kabinett-unter-friedrich-merz/
[13] Nach der Bundestagswahl: Pharmaverbände fordern „schnelle … https://www.aerztezeitung.de/Politik/Pharmaverbaende-fordern-schnelle-Regierungsbildung-und-Stabilitaet-456690.html
[14] Außenpolitik: Die Merz-Doktrin – The Pioneer https://www.thepioneer.de/originals/others/articles/aussenpolitik-die-merz-doktrin
[15] Bundesregierung: Das neue Kabinett nimmt Konturen an – manager https://www.manager-magazin.de/politik/bundesregierung-das-neue-kabinett-nimmt-konturen-an-a-a0b9c94d-c832-4a48-a3ce-d373aae074cb
[16] Vereidigung später, Forderungen jetzt – Pharmazeutische Zeitung https://www.pharmazeutische-zeitung.de/vereidigung-spaeter-forderungen-jetzt-155758/
[17] CDU-Chef Merz und seine NRW-Wurzeln – Landespolitik – WDR https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/kanzlerwahl-merz-cdu-nrw-portraet-100.html
[18] Merz ist Bundeskanzler | PZ – Pharmazeutische Zeitung https://www.pharmazeutische-zeitung.de/merz-ist-bundeskanzler-155771/
[19] Wie wird sich die Forschungszulage unter Kanzler Merz ändern? https://busuttilcompany.de/forschungszulage-unter-merz/
[20] CDU beschließt Agenda 2030 https://www.cdu.de/aktuelles/funktionierender-staat/cdu-beschliesst-agenda-2030/
[21] Eine Mischung aus Reha-Kur und Fitnessprogramm https://www.pharmazeutische-zeitung.de/eine-mischung-aus-reha-kur-und-fitnessprogramm-155224/
[22] Merz will e.K. stärken | APOTHEKE ADHOC https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/koalitionsvertrag-ist-ein-aufbruchsignal/
[23] Koalitionsvertrag: Das hat Merz‘ Regierung gleich nach Amtsantritt vor https://www.fr.de/politik/koalitionsvertrag-schwarz-rote-plaene-fuer-die-ersten-100-tage-93714952.html
[24] Merz will europäische Pharmaindustrie stärken – Wirtschaft – SZ.de https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/versorgungssicherheit-merz-will-europaeische-pharmaindustrie-staerken-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240719-930-178684
[25] Koalitionsvertrag: Die wichtigsten Punkte für NRW – Landespolitik https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/reaktionen-nrw-koalition-bundesregierung-schwarzrot-100.html
[26] Die Deutschen fordern von Merz eine strengere Migrationspolitik https://epaper.handelsblatt.com/lel,ar,56174
[27] Pharmaindustrie begrüßt Koalitionsvertrag: Chancen … – Gelbe Liste https://www.gelbe-liste.de/politik-verbaende/pharmaindustrie-koalitionsvertrag-chancen-herausforderungen
[28] Neue deutsche Führungsrolle? Europas Erwartungen an Merz https://www.tagesschau.de/ausland/europa/europa-merz-100.html
[29] Deutsche Wirtschaft fordert von Regierung radikalen Wandel https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/deutsche-wirtschaft-spitzengespraech-buerokratie-investition-100.html
[30] Dr. Cordula Weiß – Pharma ist Innovationstreiber – LinkedIn https://de.linkedin.com/posts/dr-cordula-wei%C3%9F-202911b2_pharma-ist-innovationstreiber-und-deutschland-activity-7196457837890301952-TiuH
[31] Nationale Pharmastrategie beschlossen | BMG https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/nationale-pharmastrategie-beschlossen-pm-13-12-23.html
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