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Polioviren im Abwasser: Impflücken und Migration erhöhen Risiko in Deutschland

In zahlreichen deutschen Städten wie München, Dresden, Hamburg, Köln, Bonn, Düsseldorf, Mainz, Berlin und Stuttgart sind Polioviren im Abwasser nachgewiesen worden, was das Robert Koch-Institut (RKI) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) zu dringenden Warnungen vor Impflücken veranlasst. Die nachgewiesenen Erreger, zirkulierende impfstoffassoziierte Polioviren Typ 2 (cVDPV2), stammen von mutierten Impfviren, die wieder krankmachend werden können, insbesondere bei Menschen ohne ausreichenden Impfschutz. Experten sehen keine Gefahr einer flächendeckenden Ausbreitung, halten jedoch eine lokale Übertragung für zunehmend wahrscheinlich, da die Funde seit Ende 2024 bestehen und an verschiedenen Standorten nachgewiesen wurden. Besonders gefährdet sind ungeimpfte Kinder unter fünf Jahren, immungeschwächte Erwachsene und Menschen aus Krisengebieten, wo Impfprogramme durch Konflikte unterbrochen sind. Die DGN und das RKI fordern, den Impfstatus zu überprüfen, Hygienemaßnahmen zu verstärken und die migrationsmedizinischen Herausforderungen gezielt anzugehen, um die Verbreitung der gefürchteten Kinderlähmung zu verhindern.

Poliomyelitis ist eine hochansteckende Virusinfektion, die das zentrale Nervensystem angreifen und irreversible Lähmungen verursachen kann. „Nach der außerordentlichen Erfolgsgeschichte der Polio-Impfung – weltweit wurde das Virus um über 99 Prozent zurückgedrängt – ist die jetzige Situation ein Rückschlag, aber die hohe Immunisierung in Deutschland lässt keine Endemie erwarten“, sagt Prof. Dr. Uta Meyding-Lamadé, Mitglied der DGN-Kommission Neuroinfektiologie und stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Poliokommission des RKI. Dennoch warnt sie: „Kinder ohne Impfschutz sowie immungeschwächte Erwachsene ohne Impfschutz könnten sich nun auch in Deutschland mit Polioviren infizieren.“ Die anhaltenden Nachweise im Abwasser deuten auf eine lokale Mensch-zu-Mensch-Übertragung hin, die durch die Einreise von Menschen aus Regionen mit niedrigen Impfquoten begünstigt wird.

Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch Schmierinfektion, bei der die Viren über den Stuhl ausgeschieden und über kontaminierte Oberflächen weitergegeben werden. „Die Viren werden mit dem Stuhl ausgeschieden – und oft mit der Klinke in die Hand gegeben. Regelmäßiges Händewaschen und Handdesinfektionen minimieren das Übertragungsrisiko“, betont das RKI. In etwa einem von 200 Fällen führt die Infektion zu schweren neurologischen Komplikationen. Die Erkrankung verläuft in drei Phasen: Zunächst treten Fieber und Kopfschmerzen auf, gefolgt von asymmetrischen Lähmungen im paralytischen Stadium. Im Reparaturstadium bilden sich diese oft nur unvollständig zurück. „Gut ein Drittel der Betroffenen trägt schwere, dauerhafte Lähmungen davon“, erklärt DGN-Generalsekretär Prof. Dr. Peter Berlit. Spätfolgen wie das Post-Polio-Syndrom mit Fatigue und Schmerzen oder die spinale Muskelatrophie erhöhen das Risiko weiterer Einschränkungen.

Die cVDPV2-Variante stammt von der oralen Schluckimpfung (OPV), die in Deutschland seit 1998 nicht mehr verwendet wird, aber in Ländern wie Teilen Afrikas oder Asiens weiterhin eingesetzt wird. Bei niedrigen Impfquoten können diese Impfviren zirkulieren, sich genetisch verändern und wieder pathogen werden. Das RKI vermutet, dass die Viren durch Reisende oder Migranten aus Regionen wie Nigeria, Tschad oder Pakistan, wo cVDPV2 seit 2020 zirkuliert, eingeschleppt wurden. „Weltweit müssen wir ein Augenmerk auf Kinder in und aus Krisengebieten legen; die Kriege in Gaza oder der Ukraine haben dazu geführt, dass notwendige Vakzinierungen oft nicht mehr durchgeführt werden können“, sagt Meyding-Lamadé. Konflikte, Armut und fehlende Gesundheitsinfrastruktur in diesen Regionen haben die Impfquoten drastisch gesenkt, was die globale Polio-Ausrottung gefährdet. Migranten, insbesondere Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften, könnten unbeabsichtigt zur Verbreitung beitragen, wenn sie ungeimpft oder nur teilweise immunisiert sind.

Die migrationsmedizinische Perspektive ist entscheidend, um die aktuelle Situation zu verstehen. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kamen 2024 über 300.000 Asylsuchende nach Deutschland, viele aus Kriegs- und Krisengebieten. „Die Herausforderung besteht darin, diese Menschen schnell in das Gesundheitssystem zu integrieren und ihren Impfstatus zu überprüfen“, erklärt Dr. Sabine Wilke, Expertin für Migrationsmedizin an der Charité Berlin. Sprachbarrieren, mangelndes Vertrauen in Behörden und unzureichende Dokumentation von Impfungen erschweren die Versorgung. „Wir sollten Organisationen unterstützen, die in Krisengebieten impfen, und gleichzeitig sicherstellen, dass neu ankommende Migranten in Deutschland frühzeitig Zugang zu Impfangeboten haben“, betont Meyding-Lamadé. Das RKI hat mobile Impfteams und niedrigschwellige Angebote in Aufnahmeeinrichtungen vorgeschlagen, um Impflücken zu schließen.

Die Impfung bleibt der effektivste Schutz. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt eine Grundimmunisierung für Säuglinge im Alter von 2, 4 und 11 Monaten sowie eine Auffrischimpfung zwischen 9 und 16 Jahren. Erwachsene ohne vollständige Immunisierung sollten diese mit drei Dosen nachholen, wobei zwischen der zweiten und dritten Dosis mindestens sechs Monate liegen müssen. „Die meisten Kinderärzte haben den Impfstatus im Blick, aber es gibt Fälle, in denen Impftermine aus verschiedenen Gründen versäumt werden“, sagt Meyding-Lamadé. Laut RKI sind nur 21 Prozent der einjährigen Kinder vollständig mit drei Dosen geschützt, weit entfernt von der Zielquote von 95 Prozent. Immungeschwächte Erwachsene, etwa durch Immunsuppressiva oder Erkrankungen wie Leukämie, sind ebenfalls gefährdet. „Es besteht kein Grund zur Panik, aber Ungeimpfte dieser Risikogruppe sollten eine Vakzinierung in Erwägung ziehen“, rät Meyding-Lamadé.

Die Behandlungsmöglichkeiten bei einer Polio-Erkrankung sind stark eingeschränkt. „In Frage kommt lediglich die Gabe von Immunglobulinen, doch die Wirksamkeit ist bisher nicht ausreichend belegt. Das macht deutlich, wie wichtig die Prophylaxe durch die Impfung ist“, betont Berlit. Das Abwassermonitoring hat sich als effektives Frühwarnsystem erwiesen, doch die Funde zeigen, dass die Errungenschaften der Polio-Bekämpfung fragil sind. „Zwar haben wir keine bedenkliche Situation in Deutschland, aber wir sehen nun wieder Hinweise auf ein Virus, von dem wir annahmen, dass es bei uns ausgerottet ist“, sagt Meyding-Lamadé. Neben Impfungen und Handhygiene fordert die DGN eine stärkere internationale Zusammenarbeit, um Impfprogramme in Krisengebieten zu unterstützen und die migrationsmedizinischen Herausforderungen in Deutschland zu bewältigen. Nur so kann verhindert werden, dass Polioviren erneut Fuß fassen.

Weitere Infos:

RKI – Themen – Antworten auf häufig gestellte Fragen (FAQ) zu Polio­myelitis mit Schwer­punkt Abwasser­untersuchung


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