Eine bahnbrechende klinische Studie des National Institute of Mental Health (NIMH) der National Institutes of Health (NIH) und des University College London hat gezeigt, dass das Gehirn die Repräsentation eines verlorenen Gliedmaßes auch Jahre nach einer Amputation beibehält. Diese Erkenntnis, veröffentlicht am 21. August 2025 im Fachjournal Nature Neuroscience, widerspricht etablierten Theorien zur Plastizität des Gehirns und eröffnet neue Perspektiven für die Behandlung des Phantomglied-Syndroms sowie die Entwicklung von Neuroprothesen.
Die Studie nutzte die seltene Gelegenheit, drei Patientinnen und Patienten vor und nach einer geplanten Armamputation über einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) zu untersuchen. Dabei wurden die Gehirnaktivitäten beim Bewegen einzelner Finger (vor der Amputation) bzw. Phantomfinger (nach der Amputation) sowie der Lippen kartiert. Die Ergebnisse zeigten, dass die kortikalen Körperkarten – die Regionen im Kortex, die für die Steuerung bestimmter Körperteile zuständig sind – auch nach der Amputation nahezu unverändert blieben. Selbst ein maschinelles Lernverfahren, das anhand von Daten vor der Amputation trainiert wurde, konnte die Bewegungen der Phantomfinger nach der Amputation problemlos identifizieren, was die Stabilität der Gehirnrepräsentation unterstreicht.
Bisherige Theorien zur Gehirnplastizität gingen davon aus, dass der Kortex nach einem Gliedmaßenverlust eine umfassende Reorganisation durchläuft, bei der benachbarte Regionen, etwa für Lippen oder Füße, in den „freigewordenen“ Bereich eindringen. Die neuen Ergebnisse widerlegen diese Annahme und legen nahe, dass die kortikale Karte des verlorenen Gliedmaßes erhalten bleibt. Dies könnte erklären, warum viele Amputierte das Phantomglied-Syndrom erleben, bei dem sie Empfindungen, oft Schmerzen, in der nicht mehr vorhandenen Extremität wahrnehmen.
Die Erkenntnisse haben weitreichende Implikationen. Sie fordern bestehende Behandlungsansätze für Phantomschmerzen, die häufig von einer kortikalen Reorganisation ausgehen, zur Überprüfung auf. Gleichzeitig bieten sie neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen, die auf die stabilen kortikalen Karten zugreifen können, um feinmotorische Funktionen oder Empfindungen wie Textur und Temperatur bei Neuroprothesen zu rekonstruieren. Die Studie zeigt, dass selbst nach einem Gliedmaßenverlust das Gehirn die Repräsentation des Körpers bewahrt, als warte es darauf, wieder angeschlossen zu werden.
Die Forschung wurde durch die einzigartige Möglichkeit ermöglicht, Patientinnen und Patienten vor und nach einer Amputation zu untersuchen, was eine präzise Analyse der Gehirnaktivität vor und nach einem solchen Eingriff erlaubte. Die Ergebnisse wurden durch Vergleiche mit Kontrollgruppen ohne Amputation sowie durch weitere Analysen gestützt, die die Konsistenz der Befunde bestätigten. Die Studie unterstreicht die Notwendigkeit, die Mechanismen des Phantomglied-Syndroms neu zu bewerten und innovative Ansätze in der Neurotechnologie und Schmerztherapie zu verfolgen.
DOI: 10.1038/s41593-025-02037-7
Entdecke mehr von LabNews
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
