Vier Jahre nach der Taliban-Übernahme im August 2021 steht die Forschung und Entwicklung (F&E) in Afghanistan vor dem vollständigen Kollaps. Was in den zwei Jahrzehnten nach 2001 als Blütezeit galt – mit neuen Universitäten, internationaler Förderung und wachsenden Publikationszahlen – ist unter der Herrschaft des Islamischen Emirats zu einem Schatten seiner selbst geworden. Die Taliban-Politik, geprägt von Geschlechtertrennung, Zensur und fehlender internationaler Anerkennung, hat nicht nur Frauen und Mädchen aus dem Bildungssystem verbannt, sondern auch männliche Wissenschaftler entmutigt und Projekte eingefroren. Laut UNESCO und World Bank ist der Anteil Afghanistans an globaler Forschung auf unter 0,01 Prozent gesunken, mit einem Verlust von über 80 Prozent der Forschungsaktivitäten seit 2021. In einer Zeit, in der globale Herausforderungen wie Klimawandel und Gesundheit Innovationen erfordern, droht Afghanistan, zu einem isolierten Wissensdesert zu werden.
Historischer Rückblick: Von der Blütezeit zum Kollaps
Zwischen 2001 und 2021 erlebte Afghanistan einen Boom in der Wissenschaft: Die Zahl der Universitäten stieg von 5 auf über 30, mit Investitionen von 2 Milliarden US-Dollar durch USAID und EU-Programme. Afghanische Forscher veröffentlichten Tausende Artikel in internationalen Zeitschriften, darunter Arbeiten zu Geologie, Medizin und Agrarwissenschaften. Die Kabuler Polytechische Universität und die American University of Afghanistan wurden zu Zentren der Exzellenz. Doch der Taliban-Sturm auf Kabul am 15. August 2021 beendete dies abrupt: Internationale Fördergelder wurden eingefroren, Universitäten geschlossen und Hunderte Wissenschaftler flohen ins Exil. Ein Bericht von Nature aus 2021 beschreibt, wie Geologen und Biologen ihre Labore räumten, während die Taliban Bücher und Ausrüstung als „un-islamisch“ konfiszierten.
Seitdem hat sich der Rückgang beschleunigt. Die World Bank schätzt, dass der Bildungssektor – Voraussetzung für F&E – um 70 Prozent eingebrochen ist, mit einem BIP-Anteil an FuE von unter 0,1 Prozent (vor 2021: 0,3 Prozent). Die Taliban-Regierung, die sich als „Interim Administration“ (ITA) bezeichnet, hat keine eigene F&E-Strategie entwickelt; stattdessen priorisiert sie religiöse Ausbildung in Madressen, die 80 Prozent des Bildungsbudgets (ca. 200 Millionen US-Dollar 2025) verschlingen.
Aktuelle Herausforderungen: Geschlechterbann, Zensur und Isolation
Der Kern der Krise ist die systematische Ausschließung von Frauen: Seit 2021 sind Mädchen ab der Sekundarschule von Bildung ausgeschlossen – Afghanistan ist das einzige Land weltweit mit einem solchen Verbot. Universitäten, Labore und Forschungsstätten sind für Frauen tabu, was die Hälfte des wissenschaftlichen Potenzials eliminiert. Aktivistin Jahanzeb Wesa betont auf X: „Vier Jahre später sind Afghanistans Frauen weiterhin mutig im Widerstand, doch ihre Stimmen werden ignoriert.“ Männliche Forscher leiden unter Zensur: Im September 2025 wurden 140 Bücher von Autorinnen, darunter wissenschaftliche Werke wie „Safety in the Chemical Laboratory“, aus Universitätsbibliotheken entfernt, da sie „anti-Sharia“ seien. 23 Fächer wie Biologie, Chemie und Sozialwissenschaften wurden an 18 Universitäten suspendiert oder umstrukturiert, um „islamkonform“ zu sein.
Internationale Sanktionen und das Fehlen einer anerkannten Regierung blockieren Förderungen: Die World Bank hat seit 2021 2 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe bereitgestellt, aber nur 5 Prozent davon fließen in Bildung und Forschung – und das außerhalb der Taliban-Kontrolle. 0 UNESCO berichtet von einem Verlust von 90 Prozent der Forschungsprojekte; Labore fehlen an Strom, Ausrüstung und Personal. Ein afghanischer Absolvent, der 2021 floh, schreibt auf X: „Seit dem Fall Kabuls wurden Millionen der Bildung beraubt – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“
Soziale und wirtschaftliche Folgen: Brain Drain und Stagnation
Die Konsequenzen sind verheerend: Über 5.000 Wissenschaftler haben das Land verlassen, darunter Top-Geologen und Mediziner, was zu einem Brain Drain führt. Die Wirtschaft schrumpft um 30 Prozent seit 2021, mit 500.000 verlorenen Jobs, viele in wissensbasierten Sektoren. Ohne Forschung fehlen Innovationen in Landwirtschaft (z. B. Dürretolerante Pflanzen) und Medizin, was die Armut von 85 Prozent der Bevölkerung verschärft. Die UNDP warnt: „Die Taliban-Politik löscht die Errungenschaften der letzten 20 Jahre aus.“ In ländlichen Gebieten, wo 70 Prozent der Afghans leben, fehlen wissenschaftliche Lösungen für Klimakatastrophen; stattdessen wachsen Madressen, die keine praktischen Fähigkeiten vermitteln.
Taliban-Politik: Religiöse Prioritäten statt Wissenschaft
Die Taliban priorisieren „islamische Wissenschaften“ – Theologie und Fiqh – über empirische Forschung. Der Supreme Leader Haibatullah Akhundzada hat 2025 Dekrete erlassen, die „westliche“ Fächer wie Evolutionstheorie verbieten. Dennoch gibt es isolierte Initiativen: Die Regierung kooperiert mit China im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI) an geologischen Projekten, doch diese dienen primär Rohstoffabbau, nicht lokaler Entwicklung. Internationale Organisationen wie die UN bieten begrenzte Online-Kurse, doch Internet-Shutdowns und Taliban-Überwachung behindern dies.
Internationale Reaktionen und Ausblick: Hoffnung auf Druck und Reform
Die Weltgemeinschaft reagiert mit Sanktionen und Aufrufen: Im Januar 2025 beantragte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Taliban-Führer wegen Geschlechterverfolgung. Die EU und USA kürzen Hilfen weiter, während Pakistan und Iran Flüchtlinge abschieben – 900.000 Rückkehrer 2025 belasten das System zusätzlich. Experten wie Graeme Smith vom International Crisis Group fordern: „Ohne Frauenrechte keine echte Entwicklung – die Taliban müssen reformieren, oder Afghanistan bleibt isoliert.“
Der Ausblick ist düster: Ohne internationale Anerkennung und interne Reformen wird F&E bis 2030 auf ein Minimum schrumpfen. Doch afghanische Aktivisten im Exil und Widerstand in Kabul halten die Flamme am Leben: „Bildung ist unser Recht – und unser Kampf“, so eine Post auf X. Die UN-Sicherheitsratsdebatte im Oktober 2025 könnte entscheidend sein, um Druck für Bildungsfreiheit auszuüben.
Quellen: World Bank, UNESCO, Nature, International Crisis Group, Amnesty International, UNAMA, X-Posts (Auswahl)
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