Eine bahnbrechende Entdeckung im Bereich der genetischen Forschung könnte die Diagnose und das Verständnis seltener Neuropathien revolutionieren, die nach Infektionen auftreten. Auf der Jahreskonferenz der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik am Montag, dem 26. Mai 2025, präsentierte Dr. Rob Harkness, Postdoktorand an der Universität Manchester, Vereinigtes Königreich, die Ergebnisse einer Studie, die eine spezifische Genmutation als Ursache für eine neu entdeckte Form der Neuropathie identifiziert hat. Diese Erkenntnisse könnten nicht nur die Mechanismen hinter solchen Erkrankungen aufklären, sondern auch neue Wege für Diagnostik und Behandlung eröffnen.
Ein tragischer Fall als Ausgangspunkt
Die Forschung begann mit dem Fall eines sieben Monate alten Kindes, das bis dahin gesund war. Nach einem leichten Fieber und Hautausschlag entwickelte das Kind plötzlich schwere Symptome: Es wurde schlaff, schwach, benötigte Atemunterstützung und verstarb noch vor seinem ersten Geburtstag. Besorgniserregend war, dass zwei ältere Brüder des Kindes ein ähnliches Schicksal erlitten hatten. „Dieser Fall war der Ausgangspunkt unserer genetischen Entdeckungsstudie“, erklärt Dr. Harkness. Die Forscher identifizierten eine Mutation in einem bestimmten Gen, das sie als mögliche Ursache vermuteten. Erst zehn Jahre später bestätigte die Entdeckung einer zweiten Familie mit derselben Genmutation und einem vergleichbaren Krankheitsverlauf die Hypothese. Inzwischen sind weltweit 12 betroffene Familien bekannt.
Ähnlichkeiten mit Guillain-Barré-Syndrom
Die durch die Genmutation verursachte Neuropathie zeigt Parallelen zum Guillain-Barré-Syndrom, einer Erkrankung, die ebenfalls durch Infektionen wie das Epstein-Barr-Virus oder das Bakterium Campylobacter ausgelöst werden kann. Bei beiden Erkrankungen kann es zu einer raschen Schwäche der Beine kommen, die sich auf den gesamten Körper ausbreitet und sogar die Atmung beeinträchtigt. Die neu entdeckte Neuropathie tritt jedoch häufig nach leichten Infektionen auf und betrifft insbesondere Kinder, die zuvor gesund erschienen.
Die Bedeutung der Entdeckung liegt in ihrem Potenzial, die zugrundeliegenden Mechanismen zu entschlüsseln. „Wir hoffen, dass unsere Arbeit erklärt, warum einige Menschen nach Infektionen Neuropathien entwickeln, während andere verschont bleiben“, sagt Dr. Harkness. Experimente an Patientenzellen zeigen Ähnlichkeiten mit der Motoneuronenkrankheit (MND), was die Möglichkeit eröffnet, Erkenntnisse aus der MND-Forschung auf diese neue Krankheit anzuwenden – und umgekehrt.
Ein Gen mit zentraler Rolle
Die Forscher fanden heraus, dass das betroffene Gen eine Schlüsselrolle im Transport von Proteinen und Nukleinsäuren zwischen dem Zellkern und dem Zytoplasma spielt, der flüssigen Substanz im Zellinneren. Dieser Transportprozess ist hochreguliert und bei Patienten mit der Mutation besonders anfällig für Stress, Temperaturveränderungen und Infektionen. „Wenn die Nerven betroffen sind, können sie sich nicht mehr regenerieren“, erklärt Dr. Harkness. Diese Erkenntnis ist entscheidend, da sie erklärt, warum die Nervenschädigung so schnell fortschreitet.
Um die Mechanismen weiter zu untersuchen, stellen die Forscher aus gespendeten Hautzellen der Betroffenen Nervenzellen her. Parallel dazu nutzen sie Fruchtfliegen als Modellorganismus, um potenzielle Behandlungen zu testen. „Unsere Hypothese, dass ein einzelnes Gen für diese Neuropathie verantwortlich ist, hat sich bestätigt“, betont Dr. Harkness. „Die Herausforderung war, die Funktion dieses Gens zu verstehen.“
Weitreichende Auswirkungen
Die Entdeckung hat bereits praktische Konsequenzen. Sie ermöglicht eine schnelle und präzise Diagnose, wodurch langwierige und kostspielige Untersuchungen vermieden werden können. Zudem können Paare, bei denen ein Risiko besteht, ein betroffenes Kind zu bekommen, vor der Empfängnis genetische Tests durchführen lassen, um informierte Entscheidungen über ihre Familienplanung zu treffen. Seit die Ergebnisse veröffentlicht wurden, wurden weltweit weitere betroffene Familien identifiziert, was darauf hindeutet, dass die Krankheit häufiger ist als zunächst angenommen.
Für die Zukunft sehen die Forscher großes Potenzial. „Ein besseres Verständnis der Ursachen ist der erste Schritt zur Entwicklung von Behandlungen“, sagt Dr. Harkness. Obwohl es derzeit keine wirksamen Präventionsstrategien gibt, könnten die neuen Erkenntnisse langfristig zu Therapien führen, die die Nervenschädigung verhindern oder abmildern.
Gene und Umwelt im Zusammenspiel
Professor Alexandre Reymond, Vorsitzender der Konferenz, betont die Bedeutung der Studie: „Dies ist ein Lehrbuchbeispiel für die Interaktion zwischen Genen und Umwelt. Wir alle tragen genetische Varianten, die uns für bestimmte Umweltfaktoren, wie Infektionen, anfällig machen.“ Die Entdeckung unterstreicht, wie komplex die Wechselwirkungen zwischen genetischen Veranlagungen und äußeren Einflüssen sind.
Ein Hoffnungsschimmer für betroffene Familien
Die Arbeit von Dr. Harkness und seinem Team markiert einen Wendepunkt im Verständnis seltener Neuropathien. Für Familien, die mit den verheerenden Folgen dieser Krankheit konfrontiert sind, bietet die Entdeckung nicht nur Antworten, sondern auch die Hoffnung auf zukünftige Behandlungsmöglichkeiten. Die Forschung geht weiter, mit dem Ziel, die Mechanismen der Krankheit vollständig zu entschlüsseln und neue Therapieansätze zu entwickeln. Für die betroffenen Kinder und ihre Familien könnte dies ein entscheidender Schritt hin zu einer besseren Zukunft sein.
Entdecke mehr von LabNews
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
